Den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Screenshot – Marco.org

Marco Arment hat etwas auf seiner Webseite veröffentlicht, das mich traurig macht.

Traurig da ich in der Vergangenheit mit viel Freude an seinem Podcast auf 5by5 hatte. Ich habe seine Aussagen immer als sehr pointiert in Erinnerung, gerade im Bezug darauf wie für ihn das Leben als kleiner iOS-Entwickler ist.

Leider stellt er dies alles in Frage durch seine Aussage

I fail to see how consumers lose.

und den Titel seines Blog-Eintrages

Pass the costs along

Sprich: „Ich verstehe nicht, wieso die Kunden (unter dem Urteil im Prozess Apple ./. Samsung) unter dem Urteilsspruch leiden“ und „Reicht die Kosten weiter“.

Es ist irritierend für mich dass Marco es auf der einen Seite schafft, Patent-Trolle zu verurteilen, auf der anderen Seite die Auswirkungen dieses Urteils gegen Samsung nicht richtig einschätzen zu können.

Aber der Reihe nach. Zunächst einmal kann eine Firma zusätzliche Kosten nicht einfach weiter reichen. Dies widerspricht allen Gesetzen der Wirtschaft. Ein Kunde muss zu jedem Zeitpunkt immer ALLE Kosten der Produktion bezahlen. Dazu gehören auch die Kosten für Lizenzen und andere Gebühren sowie Strafzahlungen. John Gruber und Horace Dediu erinnern uns am laufenden Meter daran, dass die Hersteller von Geräten mit Android-OS nahezu keine Profite mehr machen – Samsung ausgenommen. Dies wird sich nunmehr voraussichtlich ändern. Samsung muss nicht nur über eine Milliarde Dollar an Strafe für Patentverletzungen an Apple zahlen, sondern voraussichtlich auch 7,5 Milliarden Dollar an Gewinnen abgeben, die durch die betreffenden Produkte erzielt wurden. Nilay Patel schreibt all das ganz nett auf in diesem Artikel„. Das sind mal eben 70% aller Gewinne aus dem Jahr 2011 in Höhe von 12,089 Milliarden Dollar. Und das betrifft alle elektronischen Geräte vom Fernseher bis zum Kühlschrank. Nicht nur die Smartphones.

MIR (!) fällt es schwer zu verstehen wie die Firma es schaffen soll, diese Kosten einfach so wegzustecken. MIR fällt es schwer zu verstehen wie man diese Kosten einfach so an seine Kunden weitergeben soll.

Denn man kann Kosten nicht nachträglich an seine Kunden weiter reichen. Die Telefone, die das Urteil betrifft, sind bereits verkauft. Wie soll Samsung das Geld von den Kunden bekommen, die ihr Handy bereits gekauft haben? Der komplette Gedankenansatz ist schief und zeigt die Perversität des Patensystems. In einem Prozess der dafür sorgen soll, dass Samsung nicht weiter komplett offensichtlich kopiert schlägt er vor, Samsung solle die Kunden einfach mit den Kosten belasten – Kunden, die höchstwahrscheinlich Samsung-Produkte kaufen werden, die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem iPhone haben werden.

Nochmal zum mitschreiben: Marco Arment findet es vollkommen logisch, dass ZUKÜNFTIGE Kunden die Kosten übernehmen müssen beim Kauf von Telefonen, die keinerlei Apple-Patente mehr verletzen (sollten)

Arment führt dabei an dass Android (das OS) selbst ja keinerlei Patente mehr verletze (nach Aussage von Google) und deshalb die Geräte wenn Samsung nicht weiter TouchWiz oben drauf setzt, gar keine Patentzahlungen mehr enthalten sollte. Google habe das OS bereits entsprechend verändert (siehe JellyBean, Android 4.1).

Aber wieso ist sich Arment hier so sicher? Wieso ist die Situation jetzt irgendwie anders als diejenige in der sich die Firmen befinden, die von Patent-Trollen wie Lodsys und Intellectual Ventures mit Prozessen überzogen wurden? Ist die „thermonukleare“ Lösung nicht eigentlich in Richtung Google gemeint gewesen? Was sagt diese Meinung aus? Dass der Prozess gegen Google gar nicht statt finden wird, weil Samsung als leichtes Ziel besser war als Google selbst?

Wie sollen sich Firmen, die Android auf ihren Geräten verwenden, in Zukunft sicher sein, dass Apple sie nicht mit weiteren Prozessen überzieht? In seinem Podcast sprach Arment davon dass es für viele Firmen einfacher sein wird, anstatt die Patente anzufrechten lieber eine Lizenzzahlung vorzunehmen. HTC lässt sich davon nicht abschrecken wie sie neulich mitteilen ließen, aber HTC ist ja auch keine kleine Firma. Liegt hier der einzige Unterschied darin, dass die Firmen, um die es hier geht, schön groß sind, und dass man sie deshalb ruhig mit Prozessen überziehen kann? Ist der einzige Unterschied hier dass das komplett kaputte Patentsystem hier von denen zum Kampf verwendet wird, die sich bis an die Zähne bewaffnen können?

Samsung musste soeben 70% aller Profite aus dem Jahr 2011 abgeben. Was wenn nicht die komplette Monopolisierung aller Gewinne im Smartphone-Sektor erleben wir hier eigentlich gerade? Ist es WIRKLICH sinnvoll, wenn EINE Firma ALLE Gewinne bekommt in einem Marktsegment?

Hier geht es nicht darum, Samsung zu verteidigen

Ich finde die Firma hat Strafen verdient. Es ist mehr als offensichtlich, dass sie sich in lächerlicher Weise an den Ideen von Apple bedienen. Was mich aber irritiert ist, dass Marco Arment wirklich der Meinung ist, die Strafzahlungen könnten von Samsung einfach so weiter gereicht werden.

Samsung kann entweder

  1. alle ihre Produkte so verändern, dass sie keine Patente mehr verletzen oder
  2. Apples Patente lizenzieren und die Preise anheben oder
  3. Apples Patente lizenzieren und die Preise nicht anheben

Kommen wir also zum Fall 3) – die Kosten nicht weiterreichen. Warum geht das nicht (ohne das Kunden darunter leiden)?

Wie Arment sagte „offset the costs“. Sprich Einsparungen machen und dadurch die Produktionskosten senken und damit die zusätzlichen Kosten der Patentzahlungen auffangen.

Nehmen wir für diesen Fall einfach mal an, dass Samsung wider allen Erwartungen wirklich gute Mitarbeiter hat. Sagen wir einfach sie hätten ihren eigenen Jonathan Ive, ihren eigenen Phil Schiller, ihren eigenen Tim Cook. Ist davon auszugehen dass diese Mitarbeiter auf Lohnzahlungen verzichten können, sollen oder überhaupt würden? Oder ist wahrscheinlicher dass die Kosten irgenwo weiter die Produktionskette herunter eingespart werden würden? John Gruber betont ja gerne, dass Samsung ebenfalls Probleme mit der Arbeitersicherheit in den Produktionsanlagen in China hat. Wie fängt man zusätzliche Kosten wohl am besten auf? Wenn Samsung wirklich viel pöser ist als Apple – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit dass aufzufangende Kosten in Südkorea eingespart werden? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass es eher in China passieren würde? Welche Arbeiter leiden wohl darunter, wenn die Kosten einfach nicht weiter gegeben würden?

Und führen Kosteneinsparungen nicht dann auch automatisch zu Qualitätseinbußen? Ist es wahrscheinlicher dass die Produkte von gleicher Qualität bleiben, oder, wenn Kosten eingespart werden, dass dies eher nicht der Fall sein wird? Ist es nicht „eventuell“ nachvollziehbar, dass zukünftige Kunden von Samsung unter diesen Einsparungen „leiden“ würden? Wieso ist das nicht nachvollziehbar?

Wie auch immer. Kommen wir zur anderen Möglichkeit: die Kosten werden nicht eingespart sondern weiter gereicht. Nehmen wir mein derzeitiges Smartphone als Beispiel, das Samsung Galaxy Nexus. Dieses kam im Dezember 2011 für den UVP von 650 Euro auf den Markt. Zum Kaufzeitpunkt im März habe ich 450 Euro für das Gerät bezahlt. Mittlerweile ist der Preis auf 350 Euro gefallen. Alles ohne Vertrag, ohne Subventionierung eines Herstellers. Man bekommt es je nach Vertrag schon für einen Euro mit dazu. Für ein Gerät das mit dem iPhone 4S vergleichbar ist (wenn man mal von der Kamera absieht).

Mir ist es ehrlich gesagt unbegreiflich wie man ohne rot zu werden behaupten kann, Samsung könnte die Kosten des Prozesses und zukünftige Zahlungen einfach an seine Kunden weiter geben, ohne dass die Kunden darunter leiden würden. Wenn Samsung den Preis seines Geräts innerhalb von 8 Monaten um fast 50% senken konnte, wie genau ist es logisch nachvollziehbar dass die Firma nicht bereits jedwede Einsparung sofort an seine Kunden weiter reicht? Ist es nicht absolut logisch dass sich die zusätzlichen Kosten auf den minimal erreichbaren Preis eines Gerätes automatisch oben drauf setzen? Ist der eklatante Preisverfall bei Android-Smartphones nicht das beste Beispiel dafür, dass Einsparungen sofort und nahezu ungefiltert an die Kunden weiter gegeben werden, und dass jede Erhöhung der Kosten dafür sorgt, dass Kunden das Telefon nicht zum minimal möglichen Preis bekommen werden, sondern zum Preis X+Lizenzkosten?

Samsung-Kunden werden unter dem Urteil leiden

Insofern das Urteil so wie es ist bestehen bleibt. Leiden ist natürlich irgendwo eine Übertreibung. Wie definiert man „leiden“ wenn es darum geht, jederzeit und überall Internet zu haben? Und wenn wir die Kosten von 35 bis 40 Dollar die Apple mal angeboten hatte pro Gerät auf ein Smartphone umlegen – das sind in einem Nutzungszeitraum von typischerweise zwei Jahren mal eben 1 Euro und ein paar Zerquetschte pro Monat. Wer spricht da von „leiden“?

Aber nehmen wir einfach mal ein vollkommen übertriebenes Beispiel. Medikamente.

Jeder der sich mit den Initiativen von Bill Gates mal etwas genauer auseinander gesetzt hat wird wissen, dass er mit all seiner gemachten Knete in Afrika gegen Malaria und AIDS kämpft. Viele Firmen haben sich dazu verpflichtet, patentgeschützte Medikamente nahezu zum Selbstkostenpreis herzustellen und zur Bekämpfung der Krankheiten in Afrika zur Verfügung zu stellen. Jeder hat sicherlich schon mal eine Werbung gesehen für eine Hilfsorganisation die von irgendwas pro Tag zur Rettung eines Menschenlebens spricht.

Gehen wir davon aus dass 20 Cent für die Rettung eines Menschenlebens reichen. 20 Cent. Nicht 20 und ein Bisschen. Nicht 21, nicht 22, sondern genau 20. Sollten also die Kosten für die Medikamente nur um einen Cent steigen, muss jeder 20ste Patient auf seine Medikamente verzichten.

Der Grund aber, warum diese Medikamente so billig sind, liegt darin, dass die Firmen auf die Patentzahlungen für selbige verzichten. Weil sie zulassen, dass eine Pille produziert wird zu einem Preis, der fünfzig Mal niedriger liegt als der Preis den ein Kunde sagen wir mal in den USA bezahlen müsste. Klar das machen nicht viele Firmen und oftmals kommen nur Medikamente nach Afrika, die bereits außerhalb des Patentschutzes liegen. Was aber wenn ein tolles neues Medikament gegen AIDS oder Malaria entwickelt wurde, das in den USA mehrere hundert Dollar im Monat kostet, weil es geschützt ist.

Was wenn man die Herstellung von Generika erlaubt und damit Menschenleben rettet?

Komplett übertrieben

Der Vergleich ist natürlich komplette Übertreibung. Er illustriert aber, wie Wirtschaft funktioniert. Kommen wir also zu John Gruber und Horace Dediu zurück, die uns seit knapp einem Jahr vermitteln wollen, dass Apple das „Gesetz der Großen Zahlen“ austricksen könnte, indem sie neue Märkte in Schwellenländern erschließen könnten. Dediu ist damit ja im zweiten Quartal auf die Nase gefallen. Er hat irgendwann verstanden, dass Smartphones auch Funktmasten brauchen, um sinnvoll zu funktionieren. Aber nehmen wir einfach mal das Beispiel Schwellenländer und die Dritte Welt und die „One Laptop Per Child“ Initiative von Nicholas Negroponte. Selbiger ist damals angetreten, einen Mini-Laptop für 100 US-Dollar in die Dritte Welt zu bringen.

Was wenn nicht ein Mini-Computer ist ein Smartphone?

Wenn man die Ideen der OLPC-Initiative auf das vollkommen überzogene Beispiel der Medikamente oben anwendet, was wenn nicht „Leid“ bedeutet es für die Schwellenländer und die Dritte Welt, wenn sie einen kleinen Taschencomputer wie ein iPhone oder Android-Smarthpone nur für 40 Dollar mehr bekommen? Was wenn nicht Leid ist es, wenn die Weiterreichung von neuester Technologie in diese Länder verzögert wird durch hohe Kosten?

Was wenn nicht ein „Generika“ ist ein Samsung-Smartphone? Wenn es eine so komplette Kopie von Apples iPhone ist, was wenn nicht die billigst mögliche Version eines iPhones gelangt dann in diese Schwellenländer und die dritte Welt? Was wenn nicht eine BESSERE Version eines OLPCs könnte man dort kaufen? Jeder der ein Smartphone hat weiß, dass man es bei angeschlossenem Ladegerät rund um die Uhr Benutzen kann. Ein Ladegerät, dass lediglich 1 Watt verbraucht. Alleine das Display des OLPCs verbraucht so viel Strom.

Marco Arment – Kunden leiden in der Tat unter dem Urteil. Und zwar rund um den Erdball.

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